Aus Tucholskys Plattenschrank
"Das ist fürwahr ganz wunderbar"
Kleinodien und Kritiken aus Tucholskys Plattenschrank lassen die Jazzer der Dreißigerjahre aufleben
Als Karl Valentin vor fast 80 Jahren in dem Kurzfilm „Im Schallplattenladen" nach einer Sanitätskolonnenplatte fragte, weil ihm der Titel des Liedes „Seemannslos" nicht mehr einfiel, hätte ihm wohl nur sein Zeitgenosse Kurt Tucholsky weiterhelfen können. Der war nämlich nicht nur passionierter Schallplattensammler, sondern veröffentlichte auch gelegentlich Kritiken zu seinen Lieblingsstücken. Er war einer der ersten, die sich literarisch mit dem Klangerlebnis auseinandersetzten. Vor seinem mitunter gnadenlosen, erheiternden, stets ernst-humoristischen Urteil war niemand sicher: die Jazzqueen Sophie Tucker ebenso wenig wie der „flüsternde Bariton" Jack Smith oder die Berliner Göre Claire Waldoff, die es ihm besonders angetan hatte.
Unter dem Pseudonym Peter Panter und Theobald Tiger schrieb Tucholsky für den Simplicissimus, die Vossische Zeitung und die Schaubühne, die von 1905 an als Wochenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur erschien und 1913 in Weltbühne umbenannt wurde. Diese literarischen Kleinodien des Journalisten und Schriftstellers Tucholsky sind heute nahezu in Vergessenheit geraten - und leider hat sich ihr Stil nicht in die Gegenwart hinüberretten lassen. Wo Kritiker oft knappe Kaufempfehlungen, kurze Performancebeurteilungen oder schliche Informationen über diesen oder jenen Musiker abgeben, steht bei Tucholsky noch das ausgiebige Philosophieren über die Eigenheiten des Interpreten, über musikalische Finessen und gesangliche Entgleisungen im Vordergrund, das er mit ausschweifenden Assoziationen garnierte.
Einer, der für diese Form der ausgesprochen unterhaltsamen Musikrezension besondere Sympathien aufbringen kann, ist der Kraillinger Musiker Walter Erpf. Seine stolze Schelllackplattensammlung umfasst 3500 Exemplare, davon 22 aus Tucholskys Favoriten-Bestand. Anlässlich eines charmanten, ganz im Flair der Zwanziger- und Dreißigerjahre gehaltenen literarisch-musikalischen Abends, legte Erpf am vergangenen Freitag im Olchinger Kom eine exzellente Auswahl an Lieblingsstücken des Publizisten auf - natürlich stilecht auf einem Original-Grammophon aus den Dreißigerjahren.
Der Schauspieler und Sprecher Sebastian Hofmüller las begleitend ausgewählte Texte Tucholskys, die in der Weltbühne oder der Vossischen Zeitung erschienen waren. Als „Kostümball der Erinnerungen" bezeichnete Tucholsky dort das Gefühl beim Hören einer Platte. „Miss Annabelle Lee" von Jack Smith, dem „Oberflüsterer" und seinem „flüsternden Orchester", versetzten ihn geradezu in Entzücken. Wagner dagegen sollte man sich - wenn überhaupt - nur noch in Form der „Columbia Nummer 14002" zu Gemüte führen, da erklänge der „holde Abendstern" nämlich als Jazzinterpretation. Gleichsam hatten es ihm die „Revelers" angetan, die Chanson- und Operettensängerin Trude Hesterberg und der Schauspieler Paul Graetz, der unter anderem von Tucholsky verfasste Lieder vortrug.
Nostalgie kam bei der Veranstaltung in der Olchinger Kulturwerkstatt in allen Bereichen auf. Nicht nur die liebevolle Bühnenausstattung, bestehend aus Dreißigerjahre-Interieur, sondern auch das Rauschen des alten Plattenspielers und Claire Waldoffs unvergleichliches „Hermann heeßt er" entführten die Zuhörer für kurze Zeit in eine längst vergangene Welt.
Um es mit Tucholsky zu sagen: "Das ist fürwahr ganz wunderbar".
Julia Berghofer (Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2013)